Wir als Türkiye an der Pforte zu Europa befinden uns in einer großen Auseinandersetzung. Die Syrien-Krise, die seit 9 Jahren wütet und für die Menschlichkeit immer neue Katastrophen bringt, bedroht uns alle aufs Neue. Aber diesmal mit einem Unterschied. Es ist nicht mehr möglich, dass wir Europa, gegen den Willen Europas, alleine verteidigen. Millionen von Menschen wurden in Syrien vertrieben und sind auf dem Weg zu unseren Grenzen. Der Nahe Osten befindet sich auch in Ihrer Nachbarschaft und ist gar nicht so weit weg, wie Sie denken. Die Geschehnisse dort wirken sich auch auf Sie aus. Obwohl Türkiye in diesem Zusammenhang als Akteur die Lasten alleine trägt, gibt es solche, die sich das Recht herausnehmen, Türkiye ständig zu kritisieren. Aber es ist nun an der Zeit, dass sie verstehen müssen, dass man sich für eine Lösung bemühen muss. Denn Syrien stellt in Bezug auf die Menschlichkeit und für Europa eine Prüfung dar.
Während Sie diese Zeilen lesen, setzt ein EU-Land, nämlich Griechenland, seine Verpflichtungen aus dem internationalen Recht und dem EU-Recht aus, schießt auf dem Land und zur See auf Flüchtlinge, die an ihrer Grenze Zuflucht suchen, und geht gegen diese auf eine unmenschliche Art und Weise vor. Es versenkt ihre Boote. Es greift mit Tränengasbomben an, tötet drei Menschen und verletzt viele weitere. Es legt gegen eine diplomatische Erklärung, die sich auf das internationale Recht beruft, Veto ein. Während die Menschlichkeit und die gemeinsamen Werte der EU mit Füßen getreten werden, unterstützen die Institutionen der EU Griechenland, obwohl sie diese Werte doch hochhalten müssten. Die UN jedoch sagt, dass diese begangenen Taten rechtswidrig sind.
Griechenland versucht, die Ägäis und das Mittelmeer uns zu verschließen. Der EU-Mechanismus dagegen generiert in seiner engstirnigen Logik unterstützende Erklärungen für diese Politiken. Es geht bei dem Problem auch nicht nur um einen Nachbarn von uns, der von seiner These, die Wiege der Demokratie zu sein, plötzlich über Nacht zum Urheber schrecklicher Bilder absteigt.
Das Problem ist grundlegender Art. Zu sagen: “Die Flüchtlinge sollen nicht zu uns kommen, Türkiye soll sich um sie kümmern”, ist eine Verantwortungslosigkeit und das akzeptieren wir nicht mehr. Ohnehin ist Türkiye wiederum der Motor für alle Lösungsbemühungen auf dem Feld und am Verhandlungstisch. Einfach nur zu kritisieren, anstatt zu kooperieren und solidarisch zu sein, löst das Problem nicht. Im Gegenteil, es erschwert die Bemühungen in dieser Hinsicht. Wie sind wir zu dem jetzigen Punkt gekommen, was haben wir in den letzten Monaten erlebt und erleben es auch heute noch, daran sollten wir uns gemeinsam erinnern.
Als die Demonstrationen nach berechtigten Forderungen des syrischen Volkes begannen, hat das Assad-Regime, obwohl es mit dem Volk eins sein müsste, seine Panzer auf die Menschen gerollt. Bis heute haben mindestens 500.000 Menschen ihr Leben verloren und annähernd 10 Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Städte sind verwüstet, die Menschen sind am Ende. 3,6 Millionen der Geflüchteten, also Zweidrittel der gesamten syrischen Flüchtlinge auf der Welt sind zu uns gekommen.
Die internationale Gemeinschaft hat unter den vielen Terrororganisationen, die sich in Syrien eingenistet haben, einschließlich der PKK/YPG nur gegen DAESCH einen gemeinsamen Kampf geführt. Trotz alledem gab es den eigentlichen Wendepunkt im Kampf gegen DAESCH mit der Militäroperation von Türkiye “Schutzschild Euphrat”, die 2016 begonnen wurde. DAESCH wurde aus einem weitläufigen Gebiet entfernt. Und danach konnte sie sich auch nicht mehr sammeln. Das Assad-Regime hat seit 2014 mit der Unterstützung von Russland und dem Iran gegen die Opposition eine totale Zerstörungsoffensive gestartet, bei dem Zivilisten nicht beachtet wurden. Türkiye hat nicht versucht mit Akteuren, die auf dem Feld und am Verhandlungstisch ohne Einfluss waren, einen Beitrag für die Lösung zu leisten, sondern mit Russland und dem Iran, auch wenn es Meinungsunterschiede mit diesen gab. Um den UN-Prozess zu beleben, zu retten und das Leben tausender Menschen zu schützen und zu verhindern, dass Menschen zu Flüchtlingen wurden, war das auch erforderlich. Mit der Formel “Astana Mechanismus” wurde eine Formel entwickelt, um die Menschen gegen die Massenvernichtungsstrategie des Assad-Regimes zu schützen. Als Letztes wurde auch in Idlib solch ein Mechanismus etabliert. Hier gibt es auch radikale Elemente. Um die Moderaten von den Radikalen zu trennen, hat Türkiye die Initiative ergriffen. Während dieser Prozess weiterging, hat das Assad-Regime unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung, ohne zu unterscheiden, die zivile Bevölkerung und ganz zuletzt türkische Soldaten angegriffen, die als Beobachter des Waffenstillstands im Einsatz waren. Jetzt spürt das Regime aber, was es heißt, türkische Soldaten anzugreifen, und es wird es auch noch weiterhin spüren.
Als das alles geschah und insbesondere in der Phase nach 2014, als das Assad-Regime seinen Schwerpunkt mit Unterstützung von außen auf die Vernichtungsstrategie seiner eigenen Städte und Bürger gesetzt hat, hat der Flüchtlingsstrom der Menschen ins Ausland zugenommen. Alle Nachbarstaaten waren überfüllt von Flüchtlingen. Türkiye ist zu dem Land mit den meisten Flüchtlingen weltweit geworden. Nachdem 2015 die Geflüchteten nicht mehr in Türkiye verbleiben und weiter nach Europa wollten, ist es in Europa zum Chaos gekommen. Am 18. März 2016 sind wir mit der EU zu einem Übereinkommen gekommen. Dieses Übereinkommen überließ die Lasten der Geflüchteten wieder überwiegend Türkiye. Wir haben es dennoch begrüßt, dass die EU, wenn auch nur zum Teil, bereit war, die Last zu teilen. Nach den vergangenen vier Jahren hat Türkiye ihre sämtlichen Verpflichtungen aus dem Abkommen vom 18. März erfüllt. Die EU hat dagegen ihr Versprechen zu folgenden Kapiteln immer noch nicht eingehalten:
- Sechs Milliarden Euro sollten als Beitrag geleistet werden, nur die Hälfte ist erfolgt. Dieser Beitrag ging nicht direkt an uns, oder die Geflüchteten, sondern wurde an verschiedene Hilfsorganisationen und Einrichtungen für humanitäre Hilfe weitergeleitet. Dieser Betrag ist neben unseren Ausgaben in Höhe von mindestens 40 Milliarden US-Dollar aus eigenen Mitteln nicht einmal der Rede wert, aber nicht einmal dieser Betrag ist angekommen.
- Das freiwillige, humanitäre Aufnahmeprogramm wurde nicht ins Leben gerufen.
- Wir wurden bei der Umsetzung der Idee der Einrichtung einer Sicherheitszone in Syrien nicht unterstützt.
Hinzukommt, dass auch Zusagen zur Zollunion, Visaliberalisierung, Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen, zu Türkiye-EU-Gipfeltreffen und zur Zusammenarbeit in der Terrorbekämpfung nicht eingehalten wurden.
Wir haben gesagt, dass die gegebene Ordnung in Idlib gewahrt bleiben muss, damit die Bevölkerung von vier Millionen Menschen gegen ein Verbrecher-Regime geschützt und ein Ausbruch eines Flüchtlingsstroms verhindert werden kann. Leider sind Stimmen, die uns unterstützt haben, wieder einmal sehr schwach gewesen. Auch Idlib ist 2020 zum Schauplatz einer menschlichen Katastrophe geworden, die wieder mit Blutvergießen in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist. Das Gebiet ist mit Flugzeugen der Unterstützer des Regimes dem Erdboden gleichgemacht worden. Alleine seit Dezember 2019 haben fast 2.000 Zivilisten ihr Leben verloren und es haben sich mindestens 1,5 Millionen, darunter 80% Frauen und Kinder, in Richtung türkische Grenze in Bewegung gesetzt. Diese Last können wir nun nicht mehr alleine stemmen. Man sollte nicht vergessen, dass zur Unterstützung der vertriebenen Menschen aus Idlib alleine für die nächsten sechs Monate fast 400 Millionen US-Dollar erforderlich sind. Die Angriffe des tyrannischen Assad-Regimes waren nicht nur auf sein eigenes Volk begrenzt. Zuletzt wurden durch einen Flugzeugangriff des Assad-Regimes auf unsere Soldaten, die die Deeskalationszone geschützt hatten, 36 türkische Soldaten getötet worden.
Ich möchte es noch einmal unterstreichen: Unser Land kann diese schwere Last, die sie übernommen hat, nicht mehr alleine tragen. Es ist unanständig, diese Aussage als Drohung, Erpressung oder politisches Manöver zu betrachten. Wir gewähren den rund vier Millionen Menschen in unserem Land den erforderlichen Schutz und die Unterstützung. Wir halten uns an den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Es gibt keine Änderung in unserer Flüchtlingspolitik. Auf der anderen Seite sind wir nicht verpflichtet, Geflüchtete, die in sichere Länder weiterziehen wollen, aufzuhalten. Wir können Geflüchteten, die aus eigenem Willen in sichere Länder gehen wollen und es vorziehen, unser Land zu verlassen, nicht stoppen. Wir haben eigentlich auch kein Recht dazu. Jedoch müssen die Länder, in die die Geflüchteten weiterziehen, dem Völker- und EU-Recht zufolge, die Geflüchteten aufnehmen. Genauso wie wir das gemacht haben.
Es bleiben weiterhin noch Millionen von Menschen in Türkiye. Damit diese verzweifelten Menschen wieder nach Syrien zurückkehren können, sollte Europa aus seinem langen erwachen. Wir sollten in Zusammenarbeit mit der UN die Voraussetzungen für eine freiwillige, reguläre, sichere und menschenwürdige Rückkehr schaffen. Zudem sollte die EU keine Verantwortungslosigkeit, sondern Verantwortung generieren und insbesondere mit Türkiye zusammenarbeiten.
Das Hauptproblem unseres Zeitalters sind Vertriebene. Am vernünftigsten ist es, dieses Problem an seinem Entstehungsort zu lösen. Im Zusammenhang mit Syrien sieht unsere Lösung wie folgt aus: Gemeinsam müssen wir die militärische Lösung Assads verhindern und den politischen Prozess wiederbeleben. Wir müssen alle daran arbeiten, dass die Syrer wieder in die von Türkiye von Terroristen befreiten Gebiete zurückkehren und dort angesiedelt werden können. Außerdem müssen wir ohne Unterscheidung zwischen Terrororganisationen gemeinsam unseren Kampf gegen den Terrorismus stärken. Zudem müssen wir auf eine Ordnung auf Grundlage der territorialen Integrität im Nahen Osten und der universellen Menschenrechte hinarbeiten.
Ich wünsche mir, dass sich das deutsche Volk, das im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viel mehr Geflüchtete aufgenommen hat, den vor uns liegenden Alternativen bewusst ist und nicht mehr auf Stimmen hört, die eine Vorliebe dafür haben, gegen Türkiye Feindseligkeiten zu schüren. In diesem Zusammenhang ist Frau Bundeskanzlerin Merkel einer der EU-Regierungschefs gewesen, die uns am besten verstanden hat. Trotzdem konnten nicht einmal die zugesagten symbolischen 25 Millionen Euro Hilfe für den Bau von festen Unterkünften für die Flüchtlinge aus bürokratischen Gründen an uns übermittelt werden. Im Grunde genommen ist eine Zusammenarbeit mit Türkiye und der gegenseitige Respekt in Bezug auf das weite und schwierige Umfeld, in dem Europa sich befindet, die beste Strategie. Türkiye ist ein NATO-Mitglied und Beitrittskandidat der EU. Die Probleme Europas und seiner Nachbarschaft werden nicht an einem Tag zu lösen sein, aber ohne die Hilfe von Türkiye sind sie überhaupt nicht lösbar. Dies ist die eindeutige Realität. Was daran nicht zu verstehen ist, überlasse ich Ihnen.
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